Die Qualen der Wahlen
Um die anarchistischen Standpunkte in der Diskussion um die neue Regierung bzw. darüber, wie wir sie wieder los werden, zu verstehen, habe ich diesen eher grundsätzlichen Text geschrieben.
Spätestens seit dem letzten Oktober stehen die AnarchistInnen in Österreich in einem ziemlich widersprüchlichen Verhältnis zu parlamentarischen Wahlen.
Dieser Text soll einen kleinen Einblick geben, warum AnarchistInnen das parlamentarische System, aber auch alle anderen Formen repräsentativer (StellvertreterInnen-) Demokratie prinzipiell ablehnen.
Die Repräsentation - Das StellvertreterInnenprinzip:
Für alle Formen der Repräsentativdemokratie gilt, daß die politische Selbstorganisation der Menschen durch das weiterdelegieren der eigenen Verantwortung auf BerufspolitikerInnen auf ein Minimum reduziert wird.
Die durch die Verfassung vorgesehene Mitbestimmungsmöglichkeit der wahlberechtigten Bevölkerung beschränkt sich auf Wahlen, die alle paar Jahre stattfinden.
Zudem kommt, daß nicht einmal alle, die von den politischen Entscheidungen der RepräsentantInnen betroffen sind (v. a. NichtstaatsbürgerInnen, aber auch Minderjährige, Entmündigte, Häftlinge ...) an den Wahlen teilhaben dürfen.
"Dazwischen haben die RepräsentantInnen quasi eine Vorgangsweise zur Verfügung, mit der sie losgelöst vom Volk Entscheidungen treffen können, die für dieses jedoch verbindlich sind. Nach einigen Jahren ist zwar eine politische Richtungsveränderung der bestimmenden Kräfte durch Wahlen möglich, dies ändert jedoch nichts an der prinzipiellen und vollständigen Delegation der politischen Entscheidungskompetenz der Menschen an eine 'oligarchische' Gruppe." (Selbstorganisierung, Gerhard Fuchs, Internet)
Eine gewählte Machtelite trifft einige Jahre lang Entscheidungen. Der Großteil der Bevölkerung bleibt von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.
Aber auch innerhalb der gewählten VertreterInnen gibt es eine regierende Mehrheit und eine oppositionelle Minderheit, die nur vergleichsweise wenig Möglichkeiten der Mitbestimmung hat.
Zwar werden (bzw. wurden) v. a. in sozialpartnerschaftlichen Systemen wie in Österreich vor manchen politischen Entscheidungen die Meinungen von diversen Interessenverbänden eingeholt. Hierbei geht es aber v. a. darum, möglichen Widerstand gegen sozialpolitischen Maßnahmen frühzeitig zu erkennen und zu ersticken. In dem Maßnahmen beispielsweise in abgeschwächter oder beschönigter Form durchgeführt werden. Die Interessenverbände sind zudem nicht entscheidungsbefugt, und verfügen nur selten über eine wirkliche Legitimation durch jene, die zu vertreten vorgeben. Auch in jenen Interessenverbänden (ÖGB z. B.) ist die Basis von den Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen.
Zudem kommt, daß sie, wenn sie der Regierung nicht mehr genehm sind, einfach wieder ausgeladen werden können.
Demokratische Konkurrenz?
Das parlamentarische System ist ähnlich der kapitalistischen Konkurrenz. "Unsere Hauptthese ist, daß Parteien in demokratischen politischen Systemen analog zu Unternehmern in einer profitorientierten Wirtschaftsordnung sind" ([Downs1968], S. 295).
Die Parteien versuchen durch ihre Maßnahmen bzw. Versprechungen WählerInnenstimmen zu maximieren.
Indem die PolitikerInnen nach immer mehr Macht streben, wollen sie auch immer mehr WählerInnenstimmen.
Es geht dabei nicht so sehr um den Inhalt der Politik oder um Programme, sondern um den Tauschwert der Politik. Die PolitikerInnen erhoffen sich, ihre Politik gegen mehr Stimmen bei der nächsten Wahl tauschen zu können.
Die Bevölkerung muß sich hingegen an die Entscheidungen halten (da sonst strafrechtliche Verfolgung droht), darf diese Entscheidungen aber nicht selbst treffen.
"... es entsteht eine Klasse von Herrschenden und eine Klasse von Beherrschten, wobei letztere von der politischen Macht während einer Gesetzgebungsperiode ausgeschlossen wird. Der eigentliche Widerspruch besteht darin, daß WählerInnen ihre Stimme abgeben, um auf tatsächliche politische Mitgestaltung zu verzichten. Die angebliche Mitbestimmung wird somit zur Minimierung der Mitbestimmung und sozialen Selbstorganisation." (Gerhard Fuchs)
BefürworterInnen der heutigen Demokratie argumentieren aber ähnlich. Sie meinen, daß durch die Konkurrenz die politische Macht kontrolliert würde. Dabei vergessen sie aber eines: Die politischen Entscheidungsträger schaffen neue politische Realitäten. Es geht nicht unbedingt darum, was sie machen, sondern wonach es für die WählerInnen aussieht. Zudem werden (ähnlich dem kapitalistischen Warenverhältnis) Bedürfnisse durch die PolitikerInnen geweckt, die diese dann befriedigen (oder zu befriedigen vorgeben). D. h. es geht nicht primär darum, das zu tun, was die Bevölkerung will, sondern die WählerInnen glauben zu machen, man/frau würde das tun, was "das Volk" will, das sagen, was "das Volk" hören will.
Eine/n "gute/n" PolitikerIn zeichnet aus, dieses "Spiel" zu beherrschen. Teils Bedürfnisse der WählerInnenschaft aufzugreifen, um sie scheinbar oder real zu befriedigen, teils Bedürfnisse zu suggerieren, also künstlich zu wecken.
Direkte Demokratie?
Auch die Formen der "direkten Demokratie", wie sie in der Verfassung vorgesehen sind, ändern nichts an dem entmündigenden Verhältnis der Bevölkerung eines Staates zu "ihrer" Regierung.
Beispiele sind Volksbegehren [1], Volksabstimmungen [2] oder Volksbefragungen [3].
Abgesehen davon, daß ein Volksbegehren die PolitikerInnen nicht verpflichtet, ihre Entscheidung danach zu richten, ist es für Gruppen, die über keine entsprechenden infrastrukturellen und finanziellen Ressourcen verfügen, unmöglich, eine solches Begehren zu starten.
Volksabstimmungen werden durch das Parlament oder die Regierung angesetzt. Die Ausarbeitungen der Gesetze und die Fragestellung obliegt dann jedoch einer Elite. Den Befragten bleibt nur eine Entscheidung zwischen ja und nein, A oder B. Über den Sinn der Fragestellung bzw., die realen Hintergründe der anstehenden Entscheidung bleiben sie zumeist nur unzureichend informiert.
Zudem werden mit den gestellten Fragen nicht selten wesentlich wichtigere Fragen ausgeklammert bzw. ausgeblendet. Der Bevölkerung wird aber glauben gemacht, sie hätte am politischen Prozeß entscheidend teilgenommen.
Deshalb wurden Plebiszite (Volksabstimmungen) v. a. auch in faschistischen Systemen angewendet.
Die Antwort ist in der Fragestellung bereits vorgegeben.
Schluß ...
Die AnarchistInnen lehnen die Teilnahme an Repräsentativdemokratie zu Erreichung ihrer Ziele ab. Dies bedeutet aber nicht, wie oft geschlußfolgert wird, es wäre ihnen deshalb egal, wer gerade an der Macht ist. Deshalb sind, gerade als eine FPÖ/ÖVP-Regierung ins Haus stand, viele AnarchistInnen zur Wahl gegangen, manche haben sogar dazu aufgerufen.
Dies Text kann aus Platzgründen nicht genauer darauf eingehen, welche Alternativen sich AnarchistInnen vorstellen können, bzw. was "direkte Basisdemokratie" im anarchistischen Verständnis bedeuten.
{Flash G.}
Fußnoten:
[1] Volksbegehren sind politische Begehren, denen von einer bestimmten Anzahl von Personen zugestimmt werden muß (meistens durch freiwillig geleistete Unterschriften), damit sie im Parlament behandelt werden. Meist ist jedoch nur die Behandlung des Themas verpflichtend, und es müssen weder Gesetzesentwürfe ausgearbeitet noch Abstimmungen abgehalten werden.
[2] Volksabstimmungen sind Entscheidungen, an denen alle Wahlberechtigten teilnahmeberechtigt sind. Sie werden meist über grundlegende politische Veränderungen abgehalten. Die Fragestellung wird dabei zumeist von der Regierung und Parlamentsmehrheit vorgegeben.
[3] Die undemokratischeste Form der "direkten Demokratie": Die herrschenden PolitikerInnen befragen das Volk, um das Ergebnis als politische Waffe einsetzen zu können. Das Ergebnis der Befragung ist jedoch nicht verbindlich.
"Direktdemokratie bedeutet, daß sich die Menschen - ohne Eliten zu bilden - selbst organisieren." (Burnicki)
Wir werden in den folgenden Ausgaben dieser Zeitung immer wieder grundsätzlich auf anarchistische Standpunkte eingehen.
Es sei hier jedoch darauf hingewiesen, daß in der Anarchistischen Buchhandlung und im Infoladen Wels zahlreiche Publikationen zu diesem Thema zu erwerben sind.
Weiters bietet die Volxbibliothek, Wielandgasse 2-4, 1100 Wien, am Mittwoch von 17- 20 Uhr die Möglichkeit, Bücher (unter anderem) zu diesem Thema auszuleihen.
Außerdem ist unter der E-Mail-Adresse anarchini@hotmail.com die Broschüre "Anarchie" gratis zu beziehen.